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Heißt es nicht Kalkutta? Nein, seit 2001 heißt diese Millionenmetropole im Osten Indiens Kolkata. Und auch sonst gibt es im Kopf Einiges zu korrigieren. Wir Europäer verbinden Kolkata alias Kalkutta mit Armut und Dreck, stellen uns Scharen von Bettlern, überfüllte Gassen, aufdringliche Taxifahrer und schmutzige Hotelzimmer vor. Sogar der Lonely Planet warnt vor einem miesen Standard der Zimmer rund um die Sudder Street, wo die meisten Rucksackreisenden absteigen. Seine Tipps wären nicht als echte Empfehlungen, sondern als die noch akzeptabelsten Optionen zu verstehen. Na, jetzt aber halblang!
Unser Zimmer im freundlichen Hotel Galaxy für 900 Rupien (ca. 13 Euro) ist makellos sauber, die Dusche funktioniert hervorragend und an der Wand hängt ein Flachbildfernseher mit fast 600 Programmen. Nach dem nächtlichen Flug aus Bangkok sind wir müde wie Blei, sinken in die frischen Laken und verschlafen unseren ersten Tag in Kolkata. Erst abends kriechen wir doch noch aus dem Zimmer, um in einem Dachterrassen-Restaurant zu dinieren.
Wir bewegen uns recht unbehelligt durch die Gassen unseres Viertels rund um die Sudder Street. Kaum jemand will uns etwas verkaufen und Bettler gibt es kaum mehr als in unserer heimischen Fußgängerzone. Für die Einheimischen ist es eine Einkaufsgegend mit der riesigen Markthalle New Market und jeder Menge Straßenhändler, die Berge von Handtaschen, Schals, riesengroßen Kuscheltieren und Schuhen aufgetürmt haben.
Wir sehen auch arme Menschen, die am benachbarten Museum auf der Straße hausen, aber es sind nur wenige im Vergleich zu den großen Massen an gut gekleideten Passanten aus der Mittelschicht, die sich einen schönen Abend machen.
Am nächsten Morgen melden wir uns spontan zu einem geführten vierstündigen Stadtrundgang durch die nördlichen Teile der Innenstadt an. Am Tor des feinen Oberoi Grand Hotels treffen wir unseren Fremdenführer David, einen älteren Australier, und ein junges Paar, ebenfalls Australier, die an der heutigen Tour teilnehmen. David betreibt seit 19 Jahren eine Firma für Reisen in Ostindien und lebt in der klimatisch angenehmen Jahreszeit in Kolkata. Während der heißen Zeit vor dem Monsun, wenn die Temperaturen und die Schwüle seine Lebensgeister lahmlegen, und während des Monsuns, wenn die Straßen hüfthoch überflutet sind, weilt er in seiner Heimatstadt Melbourne.
David hat die Ruhe weg. Ganz entspannt trottet er mit uns durch das Gehupe und Gedränge einer der hektischsten Kreuzungen Kolkatas. Nachdem wir alle die Überquerung überlebt haben, steigen wir in eine klapprige Staßenbahn. Das historische Gefährt entpuppt sich als fahrtüchtig und windet sich mit uns im Schneckentempo durch geschäftige Straßen. Die Stadt lässt sich ganz wunderbar aus den offenen Fenstern beobachten.
Fast alle einst traumhaften Altbau-Gebäude sind dem Verfall preisgegeben. Das liegt vor allem an einem Gesetz zum Schutz der Mieter, das keine Preiserhöhungen zulässt, erklärt uns David. So gelten hier vielerorts immer noch urzeitliche Monatsmieten von 100 Rupien, was heute ca. 1,30 Euro entspricht. Die Mieter können ihre Verträge weitervererben und dürfen auch nach Belieben untervermieten. Das ist schön für die Mieter, aber traurig um die Gebäude, die nicht auf eine Sanierung hoffen können.
Nach einer Kaffee-Pause im Indian Coffee House, wo früher konspirative Treffen der Freiheitskämpfer stattfanden, spazieren wir durch enge Gassen eines muslimischen Viertels sowie durch Stoff-, Schmuck-, Obst- und Gewürzmärkte. Die Händler stammen meist aus Rajasthan, erzählt unser Fremdenführer, während die ganz harten Arbeiten von den Einwanderern aus dem armen Bihar und anderen armen Landesteilen verrichtet werden.
Kolkata ist die letzte Großstadt der Welt, in der noch handgezogene Rikschas zum Stadtbild gehören. Als die Stadt diesen menschenentwürdigen Beruf verbieten wollte, waren die Proteste so groß, dass diese Pläne fallen gelassen wurden.
Raus aus den engen Gassen erblicken wir den Blumenmarkt und die riesige Howrah-Brücke, die den breiten Hooghly-Fluss überspannt. Angeblich ist sie die meistgenutzte Brücke der Welt. Ja, das könnte hinkommen, denn alle Fahrzeuge sind prallgefüllt mit Menschen und auch die Fußgängerspur ist rappelvoll. Während in New York nur Touristen und sportlich Ambitionierte die Brücken zu Fuß überqueren, wimmelt es hier von allerlei Menschen: vom Lastenträger mit Waren auf dem Kopf bis zur greisen Omi.
Den Rückweg treten wir nicht mehr zu Fuß an, sondern nehmen eine Flussfähre und genießen die in der Mittagshitze sehr willkommene Brise.
Puh, nach so vielen Eindrücken gönnen wir uns eine ausgiebige Siesta. Am Abend ziehen wir nochmal los, um die bengalische Küche zu probieren. Sie soll anders gewürzt sein als im Rest des Landes. Wir suchen ein Spezialitäten-Restaurant auf, bestellen je ein Hauptgericht und bekommen je ein winziges Schälchen. Soll das ein Witz sein? Bin ich ein Jahr alt oder was? Wir ordern hastig noch fünf Hauptgerichte. Von den peinlich kleinen Portionen abgesehen, entpuppt sich die bengalische Küche als lecker. Ich schmecke Senföl und Mohnsamen heraus. Und das hausgemachte Eis zum Nachtisch ist ein Gedicht.
An unserem letzten Tag in der ehemaligen Hauptstadt von Britisch-Indien starten wir einen Spaziergang in südliche Richtung. An einer zugemüllten Grünfläche namens Maidan vorbei, gelangen wir zu dem Victoria Memorial. Dieses imposante Gebäude wurde von den britischen Imperialisten errichtet, um zu zeigen, wie groß und toll sie sind.
Es sieht wie eine Mischung aus dem Washingtoner Weißen Haus, dem Taj Mahal und dem Wiesbadener Kurhaus aus und ist eine beliebte Sehenswürdigkeit für meist indische Touristen, die sehr darunter leiden, dass man im Inneren des Gebäudes nicht fotografieren darf. Wer es wagt, dort sein Handy zu zücken und heimlich ein Foto zu schießen, wird mit einer grellen Trillerpfeife zurechtgewiesen, muss sein Handy dem strengen Wachpersonal überreichen und dabei zusehen, wie das Foto gelöscht wird.
Aber zum Glück darf draußen in den manikürierten Gärten um das Victoria Memorial geknipst werden. Als wir uns auf eine Parkbank zu einer Pause setzen, werden wir plötzlich von einheimischen Touristen umlagert, die alle Gruppenfotos mit uns machen möchten. Kaum ist eine Familie fertig, umringt uns schon die nächste, um sich in verschiedenen Kompositionen mit uns abzulichten.
Die schönen Gärten sind auch bei Kolkatas Liebespaaren sehr beliebt, die im Schatten der alten Bäume turteln. Wer meint, dass indische Verliebte keine Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit austauschen, wird hier eines Besseren belehrt.
Auf der anderen Straßenseite zeugt die St. Pauls Kathedrale von den Zeiten der europäischen Besatzer. Im Inneren sind viele Gedenktafeln angebracht, die an die meist sehr kurzen Leben der britischen Bediensteten erinnern. Es ist schaurig, wie jung und sinnlos diese Männer bei kriegerischen Auseinandersetzungen starben. Die meisten waren erst Anfang Zwanzig.
Um auf fröhlichere Gedanken zu kommen, stecken wir unsere Nasen in die Akademie der Schönen Künste und gucken, was junge indische Künstler so gemalt haben.
Noch bunter wird es am hinduistischen Kalighat-Tempel, wo allerlei Devotionalien, Blumen, Schmuck und farbenfrohe Kleider verkauft werden. Hinein in den Tempel dürfen wir hier nicht. Der Zutritt ist nur Hindus gestattet. Aber am Abend fährt schon unser Zug nach Varanasi, wo etliche hinduistische Tempel auch uns offen stehen!
Kolkata wird mir als eine freundliche, kultivierte und für indische Verhältnisse recht grüne Stadt in Erinnerung bleiben.
Reisezeit: 14. bis 16. März 2017