Wasserhexen und Wolkenmenschen – Chachapoyas

Kuelap

Dieser Artikel enthält möglicherweise unbeauftragte und unbezahlte Werbung für Orte, Dienstleister, Unterkünfte oder Aktivitäten.

Die meisten Touristen, die über Land von Ecuador nach Peru reisen, nutzen den geschäftigen Grenzübergang an der Panamericana. Doch wir wählen den malerischen, weitaus weniger frequentierten Weg über dörfliches Hinterland. Die Fahrt von Vilcabamba nach Chachapoyas dauert, wenn alles gut geht, zwei Tage, man muss einmal übernachten und fünf mal den Bus wechseln und manchmal in den Städten mit Mototaxis von einem Busbahnhof zum anderen fahren. Dank im Internet kursierender Anleitungen gelingt uns das alles gut. Die Fahrt hat sogar einiges zu bieten.

Zunächst schauen wir in Zumba Fußball, denn dort haben wir zwei Stunden Leerlauf, als gerade die Polizeimannschaft im knöcheltiefen Schlamm gegen den lokalen Amateurklub kickt, immerhin vor einigen hundert Zuschauern. Dann genießen wir die Ausblicke auf die uns umgebende Berglandschaft von der Ranchera aus, die uns rumpelnd zur Grenze in La Balsa bringt.

Ranchera
Einfache Rechnung: LKW + Holzbänke = Ranchera!

Wir kommen im Dunkeln in La Balsa an und haben schon die Hoffnung verloren, dass die Grenze noch offen ist. Aber als wir einen großgewachsenen Einheimischen in Schlappen und Shorts fragen, entpuppt sich dieser selbst als Grenzbeamter und stempelt uns gähnend aus Ecuador aus. Auf der anderen Seite der Grenzbrücke müssen wir lautstark auf uns aufmerksam machen, damit der dortige Grenzer aufhört Youtube-Videos zu schauen und unsere Pässe bearbeitet. Sein Outfit toppt das des ecuadorianischen Kollegen: Er präsentiert Brusthaare und -warzen mithilfe eines schief sitzenden, weißen Unterhemds.

Am nächsten Tag erreichen wir unsere erste Station in Peru: Chachapoyas – das bedeutet eigentlich so viel wie „Wolkenmenschen“ oder „Stadt der Wolkenmenschen“, da diese immerhin auf ca. 2500 Metern Höhe liegt. Kommt man am Busbahnhof an, könnte man eher meinen, es handle sich um die Stadt der „Staubmenschen“, so versandet und verstaubt ist hier alles auf den ersten Blick. Doch Chachapoyas entpuppt sich als wirklich lebenswertes Städtchen im Kolonialstil: Zweistöckige, weiße Häuser dominieren das Stadtbild, es gibt eine lange Fußgängerzone, verschiedene grüne Plätze und man sieht auffällig viele Schüler und Studenten in Uniform.

Chachapoyas
Typisches Chachapoyas: Vor weißen Gebäuden …
Chachapoyas
… flanieren uniformierte Schülerinnen und Studentinnen.

Unser erster Ausflug führt uns zum Wasserfall Gocta, der erst vor wenigen Jahren von einem deutschen Entwicklungshelfer vermessen und als einer der höchsten Wasserfälle der Welt identifiziert wurde. Die Einheimischen kannten den Wasserfallfall zwar, mieden ihn jedoch. Der Legende zufolge soll im Wasser eine Hexe leben, die dort einen Schatz hütet und jeden, der dem Wasser zunahe kommt, in selbiges hereinzieht und ertränkt.

Ohne Guide soll man sich dort also nicht hinwagen. Machen wir aber. Nachdem wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Start des Wanderwegs in Cocachimba erreicht haben, eröffnet sich uns ein sicherer und gut ausgebauter Weg. Von Guides weit und breit keine Spur, selbst wenn wir einen gewollt hätten, hätten wir keinen gefunden.

Gocta
Wir sehen den Wasserfall erst aus der Ferne …
Gocta
… und nähern uns, …
Gocta
… bis es näher nicht mehr geht (ohne sich mit der Wasserhexe anzulegen).

Vielleicht beziehen sich die Warnungen aber auch auf den oberen Teil des Wasserfalls, den wir nicht besucht haben. Wie auf dem ersten Foto zu sehen, besteht der Fall ja aus zwei Teilen.

Da der Ausflug nach Gocta auf eigene Faust so gut geklappt hat, wollen wir tags darauf auch selbstständig zur Ruinenstadt Kuélap des indigenen Volkes der Chachapoyas. Es gibt auch einen Bus um 8.30 Uhr und wir tauchen pünktlich am Terminal auf. Leider hat uns keiner gesagt, dass dieser nur fährt, wenn mindestens vier Passagiere da sind. Da außer uns leider niemand erscheint, fällt unser Ausflug nach Kuélap ins Wasser und wir besuchen stattdessen erst einmal die Sarkophage von Karajía.

Nach zweistündiger Collectivo-Fahrt und einstündiger Wanderung erreichen wir in der Schlucht unterhalb des Dorfes die Felswand, in deren Mitte sich die Sarkophage befinden. Diese sind genau nach Osten, zum Sonnenaufgang hin ausgerichtet und man vermutet, dass es sich bei den Toten um Chachapoya-Fürsten handelt.

Außer dem Plätschern eines kleinen Wasserfalles hören wir nichts, die Mittagssonne brennt und wir bestaunen andächtig die einzigartigen Figuren aus Holz, Lehm und Stroh und fragen uns, was die hier Bestatteten wohl für Menschen gewesen sind.

Karajia
Hoch oben in der Felswand thronen die Sarkophage …
Karajia
… mit ihren individuellen Bemalungen und Gesichtern – nebst zweier Menschenschädel.
Karajia
Weiter unten finden sich diese rätselhaften Knochenhaufen.

Am dritten Tag soll es dann aber endlich zu den Ruinen von Kuélap gehen. Damit diesmal nichts schiefgeht, nehmen wir an einem Tagesausflug mit Guide teil. Dieser heißt Jeffrey, ist schätzungsweise Ende 20, trägt Che-Guevara-Bart, lange Haare und Mütze mit rotem Stern. Während der dreistündigen, kurvigen Fahrt zum auf 2900 Metern Höhe liegenden Bergrücken stärkt er sich erstmal durch ausgiebiges Kauen von Kokablättern für die Führung durch die Ruinenstadt.

Über das „kleine Machu Picchu“ weiß man wenig. Sicher ist wohl, dass die Stadt (oder Festung?) vor ca. 1200 Jahren errichtet wurde und bis zu 2200 Menschen auf drei verschiedenen Ebenen (für Klerus, Krieger, Bauern) beherbergte. Auch sicher scheint, dass die Stadt später von den Inkas übernommen wurde, die die Rundbauten der Chachapoyas durch ihre typischen viereckigen Gebäude ergänzten. Ansonsten wird viel über die Funktion der Gebäude und die Bedeutung der Ornamente spekuliert:

Tor Kuelap
Jeffrey in seinem Element: Waren die Tore zur Feindesabwehr so eng konzipiert oder sind die Mauern erst später durch Erdbewegungen zusammengerückt?
Tintero Kuelap
Zeigt dieses Gesicht mit weit aufgerissenen Augen einen unter Drogen stehenden Priester während einer Zeremonie?
Kuelap Rundbauten
Sahen diese Rundbauten so aus …
Kuelap Rekonstruktion
… wie diese Rekonstruktion?
Kuelap Ornamente
Was symbolisieren die Zick-Zack-Linien? Eine mythische Schlange? Die Wellen des lebensspendenden Wassers? – Was symbolisieren die Rauten? Die vier Elemente? Die Himmelsrichtungen?

Ich persönlich finde es am interessantesten, dass die Chachapoyas offensichtlich schon in der Lage waren, hirnchirurgische Operationen erfolgreich durchzuführen. Dies zeigen Funde von Schädeln mit gut verheilten Öffnungen.

Wahrscheinlich wurden die letzten Bewohner von Kuélap von Feinden getötet, denn viele Skelette wurden in einer sich schützenden Haltung mit den Armen vor dem Kopf vorgefunden.

Nach drei spannenden Tagen in Chachapoyas finden wir uns morgens um 6.30 Uhr zur Weiterreise am Busbahnhof ein und sitzen schon ein bisschen auf heißen Kohlen, da wir am Nachmittag in Tarapoto unseren Flug nach Iquitos am Amazonas erwischen müssen. Es heißt zwar, die Busfahrt dauert acht Stunden, aber bei den Angaben hier weiß man ja nie. Dazwischenkommen sollte jedenfalls nichts.

Wir sitzen mit einem Touristen aus Lima in der letzten Reihe, in gutem Englisch erzählt er uns Deutschen stolz, dass er schon Flug und Ticket für das Metal-Festival in Wacken 2017 hat. Die restlichen Reihen des Minibusses sind von einem Adventistinnen-Chor okkupiert, der nach der Abfahrt sehr zum Missfallen unseres Heavy-Metal-Freundes beginnt, inbrünstig den Himnario Adventisto herunterzusingen: Dies zeige mal wieder die Intoleranz der Religion, so unser Sitznachbar, er sei überzeugter Agnostiker, würde aber nie auf die Idee kommen, andere Mitreisende mit dem Brüllen entsprechender Metal-Texte zu belästigen. Die Argumentation ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen, aber solange wir im Zeitplan sind, sollen sie ruhig singen, meinetwegen bis der heilige Geist einsteigt.

Doch nach nur einer Stunde Fahrtzeit bittet die Chorleiterin den Busfahrer, erst einmal Frühstückspause zu machen. Laura redet entsetzt auf den Fahrer ein, wegen unseres Flugs bitte keine großen Verzögerungen zuzulassen. Ich erzähle den Damen von unserem Flug, worauf ich zur Antwort bekomme, dass das Flugzeug schon auf unseren Minibus warten werde …

Es wird also in einem Restaurant ganz in Ruhe gefrühstückt und richtig reingehauen. Laura, der Agnostiker und ich warten grimmig im Bus. Nachdem Fahrer und Chor nach einer Stunde gesättigt wieder eingestiegen sind, geht es endlich weiter und die Strecke wird bergig und kurvig. Der anfangs lebhafte Chor wird nach und nach immer stiller und blasser: Schließlich müssen sich die ersten Frühstückerinnen übergeben.

Ruhe kehrt ein im Minibus und ich sitze da und grüble: Darf der Chor in utilitaristischer Manier das Glück der Mehrheit gegen die Minderheit aus der letzten Reihe durchsetzen? Lässt sich die Übelkeit der Chormitglieder biologisch-materialistisch erklären oder hat hier ein erzürnter Gott, der von seiner Gefolgschaft mehr Toleranz gegenüber den Mitreisenden erwartet hat, strafend interveniert?

Wir erreichen Tarapoto übrigens überpünktlich. Nach den Erfahrungen mit dem Frühstück ist die Mittagspause entfallen.

Reisezeit: 25. bis 30. September 2016